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Schlaraffia Gestern, Heute, Morgen

 

Beschreibung:

 

Schlaraffia ist ein ziviler Verein, gegründet 1859, mit der Zielsetzung ein „Freundschaftsbund“ zu sein bei dem sich die Mitglieder in Vereinslokalen (Burgen) wöchentlich während des Winterhalbjahres treffen, um sich zusammen mit den anderen Mitgliedern künstlerisch im Rahmen eines Spiels mit vorgegebenen Spielregeln zu betätigen. Die Spielregeln sehen vor, dass die Mitglieder die Rolle von mittelalterlichen Rittern annehmen, deren Werte praktizieren und deren Verhalten imitieren. Dazu gehört, unter anderem, dass man eine stilisierte Rüstung anlegt, das Vereinslokal ebenso ausschmückt, und die Mitglieder auf schauspielerischer Art wie Rittersleute miteinander umgehen. Die Mitglieder kommunizieren in einer, nach heutiger Vorstellung der damaligen Zeit entsprechenden Form. Für manche Begriffe verwenden sie ein eigenes Vokabular.

 

Es gibt an die 260 verschiedene Vereinslokale (Schlaraffenreyche) auf den fünf Kontinenten. Da die Vereinssprache Deutsch ist, gibt es eine größere Mitgliederzahl in den deutschsprachigen Ländern Europas. 

 

Alle, die gewisse Regeln akzeptieren und die Rolle eines „Ritters“ anzunehmen bereit sind, können Mitglied des Vereins werden. Dabei spielen politische Anschauung, soweit sie die in den Grundgesetzen gesteckten Werten entsprechen, das Praktizieren eines bestimmten religiösen Bekenntnisses, und Status im Berufsleben bei der Aufnahme keine Rolle. Diskussionen darüber sind als Themen bei den Vereinstreffen verpönt. Es wird eine demokratische, weltoffene Einstellung mit Liebe zur Kunst und Kultur vorausgesetzt, was aber nicht genau definiert ist. 

 

Eingeladene und interessierte Gäste werden Pilger genannt, die bei Interesse als Knappen in den Verein aufgenommen werden. Im Laufe der Zeit können sie den Stand der Junker erreichen und werden später in einer feierlichen Zeremonie zum „Ritter geschlagen“. Der Gründungszeit entsprechend kann man eine solche (schlaraffische) „Karriere“ auch in der Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ von Richard Wagner vorfinden.

 

Die Mitglieder, die sich im „Vereinslokal“ versammeln, werden Sassen genannt. Sie versammeln sich zu einer Sippung (das sind die Vereinsabende), die von einem fungierenden Oberschlaraffen geleitet wird, dem in der Regel zwei weitere beisitzen, sowie ein Kanzler und ein Marschall. Knappen und Junker werden vom Junkermeister betreut und in die Regeln des Schlaraffentums eingeführt. Im Verlauf einer Sippung nehmen der Hofnarr und andere Amtsträger zusätzliche wichtige Rollen des Spieles ein.

 

Im Allgemeinen haben die Vereinsabende ein vorgegebenes Thema, zu dem die Anwesenden eigene (künstlerische) Beiträge bringen, die meist in Form von Lyrik oder Epik dargebracht werden. Diese Beiträge können informativ oder lehrreich, aber gerne auch unterhaltsam und humorvoll sein.  Es wird außerdem erwartet, dass sich die Sassenschaft (Gesamtheit anwesender Mitglieder) mit spontanen spitzfindigen Einwürfen am gemeinsamen Spiel beteiligt. Gleichwertig werden musikalische Darbietungen gebracht. Hervorzuheben sei auch, dass der Verein eine Sammlung von Liedern hat, die von Mitgliedern, darunter auch international bekannte Komponisten, für den Verein komponiert wurden. Das Singen dieser Lieder ist Teil der Vereinsabende. Etwas Besonderes sind das „Duell“ und „Turney“, bei denen verschiedene Parteien mit Beiträgen wettstreiten.

 

                                                                                                                                    

Leitspruch:                                                                                                                            

 

Der Leitspruch des Vereins /der Schlaraffen lautet Kunst, Freundschaft und Humor“. 

Diese drei Begriffe sind anzustrebende Ideale. Sie repräsentieren die ideellen Säulen aus denen sich die Wertestruktur des Vereins ableiten lässt. Den Gründern entsprechend hat die erste Säule eine erweiterte Bedeutung von „Kunst und Kultur“. Die Vereinsaktivitäten sind ein Spiel unter Verwendung künstlerischer Ausdrucksformen mit dem Leitspruch / Wahlspruch „in arte voluptas“ oder „in der Kunst liegt die Lust / das Vergnügen“.

 

 

Grundprinzipien: 

 

Das Selbstverständnis, das die Gründer Schlaraffias vom Menschen in der Gesellschaft hatten, ist aus den Gedanken der Aufklärung zu verstehen. Der Mensch ist der Mittelpunkt seines Handelns. Hierbei sind Vernunft / die geistige Fähigkeit, Erkenntnisse zu gewinnen und danach zu handeln, sowie Lernprozesse und Erziehung von entscheidender Bedeutung.  

 

Der neue Verein, der zunächst nur ein geselliges Beisammensein anstrebte, entwickelte in der Folge das bis heute in dieser Gemeinschaft gültige Menschenbild eines freidenkenden, eigenverantwortlichen, weltoffenen Menschen, unabhängig von den herrschenden gesellschaftspolitischen und sozialen Umständen, nach humanistischen Idealen und Bildung über gesellschaftliche Grenzen hinweg, unabhängig von Stand, Beruf und Religion, ohne Differenzierung auf Klassen und Stände.

 

 

Die drei Säulen Schlaraffias

 

Kunst ist die erste Säule des Schlaraffentums. Die Auseinandersetzung mit der Kunst  repräsentiert das Prinzip der Weltoffenheit und stellt ein Medium dar, welches den „Horizont“ eines jeden Menschen erweitert und für jeden einen Zugewinn bewirkt. Naturgemäß gibt es Beiträge unterschiedlicher Qualität.  Es gibt keine Definition von „künstlerisch“ und auch keine definierten Mindeststandards. Es war Absicht der Gründer, eine kulturelle und kunstaffine Vereinigung zu bilden, folgend, die Liebe zur „Kunst und Kultur im Allgemeinen“ besonders hervorzuheben, um Schlaraffia nicht der Gefahr auszusetzen ein bloßer Stammtischverein für Männer zu sei. Ebenso gibt es bei den künstlerischenDarbietungen, die dem Auditorium in allen Ausdrucksformen dargeboten wird, keine Präferenz oder Ausschluss einer Kunstrichtung aus einem spezifischen Kulturbereich. Auch Dilettanten sind herzlich willkommen.

                                                                                                                                    

Freundschaft ist die zweite Säule des Schlaraffentums und ein zentrales Thema. Freundschaft in Schlaraffia hat eine erweiterte Bedeutung. Es ist das Ziel, den friedlichen und respektvollen Umgang mit Menschen zu fördern und Vertrauen unter den Mitgliedern aufzubauen. Daraus entwickeln sich oft wirkliche tiefe, lebenslange Freundschaften. Da es keine Altersgrenze bei der Schlaraffia gibt, kann ein Zusammenwirken zwischen verschiedenen Generationen hergestellt werden. Da die Gründerväter in Prag aus einem Bund von Tschechen und Deutschen bestanden, kann historisch betrachtet der Werteanspruch „Freundschaft“ als ein Weg betrachtet werden, die ethnischen und gesellschaftspolitischen Unterschiede zwischen den Mitgliedern aufzuheben.

 

Das Prinzip der Freundschaft verlangt Solidarität zwischen den Mitgliedern. Bei Krankheit, Alter oder anderen Problemen unterstützen sich die Mitglieder gegenseitig. Für alle gelten Gleichheit und Toleranz. Beim heutigen Menschenbild bezieht die Toleranz auch unterschiedliche geschlechtliche Geneigtheiten mit ein, ein Anspruch, der noch nicht in allen schlaraffischen Regionen gleich internalisiert ist. Jedes Mitglied wird ohne Unterschied akzeptiert (Akzeptanz). Im Rahmen des Sippungsgeschehens werden die Beiträge der Knappen, Junker und Ritter geschätzt und mit Beifall belohnt. Die Initiative eines Jeden wird freudig anerkannt. Kritik findet nur da statt, wo negative Ausführungen vorgebracht werden.

                                                                                    

Humor ist die dritte Säule und das Lebenselixier der Schlaraffen.                          

Humor bedeutet Entspannung und Befreiung von Stresssituationen und den alltäglichen Gegebenheiten und bedeutet auch, sich nicht allzu ernst zu nehmen und über sich selbst lachen zu können. Jeder Vortragende fühlt sich ausgezeichnet, wenn das Auditorium zu den Beiträgen lacht und seinen Beifall ausdrückt. Spontaneität mit Einwänden oder ad hoc Beiträgen, wenn sie gelungen sind, werden besonders ausgezeichnet. Daher sollen Beiträge nicht nur informativ und lehrreich, sondern auch unterhaltsam und humorvoll sein. Die Neigung zur Kunst und ein Humor, der von Herzen kommt, repräsentieren u.a. die Freiheit des Menschen und damit die Wertestruktur des Freundschaftsbundes. Man mag aber darauf hinweisen, dass Humor erwünscht, aber niveauvoll sein sollte und daher niemals beleidigend (Hohn, Ironie, Spott, Zynismus) sein darf und derber und obszöner Humor (Zoten) nicht dem schlaraffischen Humor entsprechen.

 

 

Ziel des Vereins: 

 

Ziel des Vereins ist die Freude am gemeinschaftlichen Spiel, bei dem durch die Vorführung von künstlerischen Beiträgen und Abhaltung pointierter Diskussionen eine gehobene, aber heitere Unterhaltung unter gebildeten Menschen angestrebt wird. 

 

Der Schwerpunkt dabei liegt auf eigener Initiative und aktiver Beteiligung (Kreativität) der Mitglieder, wobei die Spielregeln die Verteilung verschiedener Rollen (bei Schlaraffia: Funktionen) vorsehen. Alle diese Rollen werden demokratisch durch jährliche Wahlen vergeben. Wichtige Entscheidungen werden in Vereinsversammlungen auf demokratische Weise abgehandelt.

 

 

Organisationsstruktur: 

 

Grundorganisation ist der lokale Verein / das lokale Reych mit den in den Spielregeln vorgesehenen Positionen, die in allen 260 lokalen Reychen repliziert werden. Es gibt kein übergeordnetes Entscheidungsgremium. Alle Entscheidungen werden in demokratischer Weise auf Vereinsebene getroffen. Auf Landesebene gibt es eine Landesorganisation, deren Aufgabe es ist, die Basisvereine bei der Erreichung des Vereinsziels zu unterstützen. Individuelle Mitgliedsbeiträge ermöglichen ein Budget für organisatorische Aufgaben. Zusätzlich bilden drei gewählte Mitglieder jedes Landes eine übergeordnete Supervision, deren Hauptaufgabe die Förderung des Vereinszieles für alle ist. Unter anderem schließt die Förderung die Aufnahme neuer Vereine in das Register des Gesamtvereins ein, sowie die Vermittlung und Überwachung der Regeln und Grundprinzipien Schlaraffias. Die Vereinsregeln (dazu gehören die Prinzipien, Spielregeln der Versammlungen und administrative Notwendigkeiten) sind in „Spiegel und Ceremoniale“ niedergelegt, und werden alle fünf Jahre in einer Generalversammlung (Allschlaraffisches Concil) durch die Delegierten eines jeden lokalen Vereines erstellt oder aktualisiert. Zusätzlich finden sich auf regionaler Ebene/Landesebene sogenannte Schlaraffentage statt. Bei Konflikten zwischen einzelnen Mitgliedern oder Mitgliedern zwischen zwei lokalen Vereinen kann ein Schiedsgericht angerufen werden. Dieses Schiedsgericht versucht den Streit durch Aussprachen zu schlichten. 

                                                                                                            

                                                                                                                                    

Spielregeln:                                                                                                                           

 

Zu jedem Vereinsabend/Sippungsabend versetzen sich die Mitglieder in die Rolle mittelalterlicher Ritter. Vor dem Betreten des Vereinslokals (Burg) streifen sie die Profanei (Alltag) ab, legen ihre Rüstung an und grüßen den Uhu, der sich in jeder Burg befindet und als höchstes Wesen in der Schlaraffenwelt Weisheit, Humor und Tugend symbolisiert. Die Bühne des „Ritterspiels“ ist eine Burg (Vereinslokal) welches in vielen Fällen einem wirklichen Rittersaal einer mittelalterlichen Burg gleicht. Die Versammlung (Sippung) die von einem Mitglied geleitet wird, folgt einem vorgegebenen Ablauf.  Obwohl alle Mitglieder gleichwertig sind, gibt es während der Sippung die wichtige, erst das Spiel ermöglichende Hierarchie der Würdenträger und Ämter, des Hofnarren sowie der Knappen, Junker und Ritter. Rollenspiel und entsprechendes Handeln nach den vorgegebenen Rollen sollen auf humorvolle, neckende Weise eingefahrenen Alltagssituationen der jeweiligen Jetztzeit konterkarieren. 

 

Vorträge werden mit Phantasieabzeichen als kleine Zeichen der Anerkennung belohnt, die jedem Reych eigen sind. Phantasietitel, die mit Urkunden verliehen werden, mokieren akademische und Verwaltungstitel. Jedes Mitglied soll sich am Sippungsgeschehen aktiv beteiligen und  verpflichtet sich, geduldig den Vorträgen zuzuhören. Die Ritterrolle lädt auch zu einem Wettstreit der künstlerischen Darbietung ein. Dies kommt verstärkt im sogenannten Duell zum Ausdruck. Es ist ein Duell der Worte und der künstlerischen Darbietung. Bedeutsam bei diesen Duellen ist die zum Schluss sehr genau definierte Form der Versöhnung zwischen den „Kontrahenten“. Symbolisch soll dies bedeuten, dass Konflikte friedlich gelöst werden. Es gibt keinen Verlierer, sondern man gewinnt einen „Freund“ zurück. 

 

Jedes Mitglied in Schlaraffia hat dieselben Rechte und Pflichten in jedem der 260 Basisvereine, jedes Mitglied ist überall willkommen. So gehört es dazu, dass auch die Mitglieder anderer Gruppen (Reyche) bei den Vereinsabenden (Sippungen) zugegen sind. Man besucht zum Beispiel auf Geschäfts- oder auf Tourismusreisen andere lokale Gruppen  (Reyche) und findet überall herzlichste Aufnahme und beteiligt sich am Spiel. 

 

 

Kritische Instrumente:

 

Ein wichtiges Spiel-Instrument in Schlaraffia ist die Persiflage. Zur Zeit der Gründung (1859) war das Objekt der Persiflage (hier akzentuiertes Verspotten) der Monarch / Adel. Es war ein Resultat der kritisierten Gesellschaftsform mit seinem autoritären Herrscher und den drei ungleichen Ständen (Adel, Klerus, Bürgertum). Die Abschaffung der Monarchie und das Verlorengehen des originalen Spielobjektes ist bis heute bei Schlaraffia noch nicht voll bewusst geworden und hat keinen eindeutigen Ersatz gefunden. Das mittelalterliche Rittertum mit seinen „antiquierten“ Verhaltensweisen könnte dem Spiel ein neues Spiel-Instrument sein. 

 

Aber auch Stereotypen und engstirniges individuelles Verhalten im Alltag werden heute in einer provokanten, aber nicht verletzenden Art und Weise überzeichnend konterkariert (Drang nach Titeln/Adelsdünkel/OrdensverleihendeÜbertreibungen in der damaligen profanen Welt!!). Die Parodie verstärkt kritische Elemente, da sie das Auditorium zum Lachen bringen soll. Ein weiteres Spiel-belebendes Ereignis ist das „Fliegen des goldenen Balls“. Es ergibt sich idealerweise dann, wenn auf Beiträge mehrere spontane Wortbeiträge anderer Schlaraffen unmittelbar folgen, wenn also ein Gedanke spontan „weitergesponnen“ wird. Zu den Beiträgen wird keine negative Kritik geübt, es sei denn, der Vortrag entspricht nicht den Anforderungen der allgemeinen Spielregeln (= Gesetze, die verbindlich für jeden Schlaraffen verfasst sind). Bei kritischen „Auseinandersetzungen“ kann auch das Stilmittel Satire Verwendung finden: jedoch nicht in der Absicht zu verletzen, sondern nur als humorvolle Übertreibung. Die aktive Beteiligung am Vereinsabend ( = „Sippung“ ) hilft durch „Fechsungen“ ( = meist ein Wortvortrag ), die eigene Rhetorik (Sprechkunst) zu verbessern. Begleitet werden die Vereinsabende durch eine Reihe von unterschiedlichen Verhaltensschemata(u.U. Musketiere), die einer mittelalterlichen Zeremonie nachempfunden sind, z.B. Begrüßung, Eröffnung des Abends, Ritterschlag, etc. 

 

                                                                                                

Geschichtlich und gesellschaftspolitischer Hintergrund:

1)

Schlaraffia wurde 1859 von Theaterschauspielern/Künstlern in Prag gegründet. Das vorerst lockere Zusammentreffen war Künstlern der Prager Szene vorbehalten und entsprach dem Bedürfnis sich von Auftrittsstress und anderen Herausforderungen der Künstler zu befreien. Man traf sich da auch noch nach den abendlichen Aufführungen. Die Wahl des mittelalterlichen Ritter-Rollenspiels hatte wohl zu Beginn keine Bedeutung. Es ging den Gründern um ein von profanen Alltagsgeschehnissen befreites Zusammensein im Freundes- / Künstlerkreis. Erstrebt war geistreiches, auch mitunter kräftiges Männerwort, Dichtung, Gesang, Musik (und gemeinsames „Tafeln“). Von allem Anfang an wollte man keine Organisation mit politischen oder gesellschaftskritischen Ansprüchen schaffen, sondern neu beginnen mit einem „Proletarierklub“, der sich aus einer Protesthaltung begründete, weil einem nicht sehr begüterten Theatermitglied die Aufnahme in die vornehme Arcadia-Gesellschaft verweigert wurde: Bewegpunkt genug, um sich in einem bisher nichtexistierenden Verein zu treffen, der sich humanistischen Idealen (Kunst/Freundschaft/Humor) verpflichtet fühlte. Bildung, auch die des Herzens, verbindet über gesellschaftliche Grenzen. Der Mensch, welcher Werte schafft und weitergibt, ist entscheidend unabhängig von Stand, Beruf oder Religion. Sehr kritisch zu der vorherrschenden Differenzierung in Klassen/Stände (siehe oben!), nannte sich der „Proletarierklub“ im weiteren Gründungsverlauf dann „Vereinigung Schlaraffia“.     

 

2)

Auch wenn die Gründungsmitglieder keinen Anspruch erhoben, einen Verein mit politisch-gesellschaftlichen Anliegen zu schaffen, hatten sie genaue Vorstellungen über die Eignung der Neu-Mitglieder. Tugenden und Gebräuche, welche die Gründer in Zeiten der Romantik bei den mittelalterlichen Rittern erkannt haben wollten, schienen ihnen ein erstrebenswertes Ziel für ihre Mitglieder. Dazu hervorzuheben sei: Treue – zum Lehnsherrn; Beständigkeit – Gutes tun, Charakter haben; Selbstzucht und maßvolles Handeln, keine Sucht und Streben nach Macht; Vorbild sein in der Gesellschaft –(Standes)-Unterschiede verwischen; Erfüllen gesellschaftlich-sozialer Verpflichtungen; Respekt – allen Menschen gegenüber, im speziellen aber den Frauen (jedoch erhob man zu dieser Zeit keinen Anspruch, die Rolle der Frau in der Gesellschaft ändern zu wollen). Es ist uns klar, dass diese hervorgehobenen Tugenden auf den Kardinaltugenden der Antike beruhen: Gerechtigkeit (Gleichheit), Mäßigung (Güte), Tapferkeit (Zivilcourage) und Weisheit (Klugheit). Man bemerke, dass das 19.Jahrhundert die Epoche der Erfindung und Gründung von Vereinen, also dem Zusammenschluss von Menschen (niedrigerem Stand) unter einem Ziel war. 

 

3)

Ein wesentlicher Aspekt der schnellen Verbreitung der schlaraffischen Idee und der Gründung von 200 Reychen in den ersten 60 Jahren nach deren Gründung, war der Tatsache geschuldet, dass sich ein beträchtlicher Anteil der Mitglieder aus dem Theater-/Künstlermilieu rekrutierte. Diese Berufsgruppen waren in der Regel nur wenige Jahre an einem gegebenen Ort tätig, bekamen neue Engagements und zogen in andere Städte. Dort engagierten sie sich in für sie neuen Reychen, lernten neue Schlaraffen kennen, gründeten mit ein paar Gleichgesinnten vielleicht sogar ein neues Reych und verfügten so über ein weitgespanntes Netz an schlaraffischen Kontakten. Sie kannten auch die Besonderheiten und regionalen Unterschiede in der Schlaraffia und konnten mit schlaraffischem Humor und Augenzwinkern eingefahrene Strukturen vor Ort kritisieren. In den Reychen existierte ein viel größerer Prozentsatz von Sassen, die andere Reyche aus einer eigenen vorherigen Mitgliedschaft kannten, als das heute der Fall ist. Dies führte auch dazu, dass eine stärkere Identifikation mit dem Gesamtbund vorhanden war, als man es heute beobachtet. Die Concile wurden als Versammlungen angesehen, in denen etwas für die Gesamtheit der Schlaraffenbeschlossen werden konnte und in denen der Bund weiterentwickelt wurde. Die heute zu beobachtende Fokussierung auf das eigene Reych war trotz der schwierigeren Reisebedingungen viel weniger ausgeprägt, als das heute der Fall ist.

 

 

Institutionelle Schwierigkeiten im Rückblick seit der Entstehung:

 

Bewusst oder unbewusst wurden in dem Verein zeitentsprechende gesellschaftspolitische Einstellungen eingebracht. Sei es in der Zeitepoche der Gründung von Nationalstaaten in Europa die Verherrlichung des Freiheitsstreben durch Befreiungskriege und Aufrüstung, sei es durch das Akzeptieren rassistischen Gedankengutes während der Zwischenkriegszeit, oder auch das Konzentrieren auf Verwaltungsmaßregelungen in der Nachkriegszeit als Flucht vor dem Einfordern der Missachtung der Grundprinzipien in der Vorkriegszeit (Verdrängungs-mechanismus). Aber über die gesamte Vereinsdauer seit der Gründung wurden nie die Grundprinzipien geändert – nur nicht immer gelebt. 

 

Die ritterliche Tugend des Respekts gegenüber allen Menschen führte am Ende der „Weimarer Republik“ zu schwerwiegenden internen Problemen, als der von Nazi-Deutschland institutionalisierte Rassismus die schlaraffische Landesorganisation Deutschland und Österreich in eine innere Spaltung führte. Viele lokale Reyche nahmen die herrschende Ansicht über die Herrenrasse an, und schlossen in vorauseilendem Gehorsam, willfährig die Juden aus ihrem Verein aus, während andere wenige das Prinzip des Respektes und der Gleichheit aller Menschen weiterhin vertraten. Sie besaßen die Zivilcourage, ihren Prinzipien treu zu bleiben. Letztlich wurde 1938 Schlaraffia, zum Erstaunen der Anpasser und Opportunisten gezwungen, im Groß-Deutschen Reich „sich selbst aufzulösen“. Während der Zeit des Nationalsozialismus 

war die tragende Kraft des Gesamtvereins die nordamerikanische Organisation. Nach dem zweiten Weltkrieg begann eine Wiederbelebung der Basisorganisationen. Nur in den Gebieten des Ostblocks blieb die vereinsmäßige Betätigung weiterhin bis zum Fall des Kommunismus unterbunden, bestenfalls „private Treffen“ unter Beobachtung der offiziellen Stellen, geduldet. Während unter dem Nationalsozialismus ein falscher Verdacht konstruiert wurde, Schlaraffia sei verlängerter Arm der „Freimaurer“ und anderer Geheimgesellschaften (im Nachhinein weiß man, dass alle Vereine abgeschafft wurden, welche sich nicht dem „Führerprinzip“ unterwarfen), war es im kommunistischem Osten unter anderem der Umstand, dass Schlaraffia sich nicht dem „Kulturbund der DDR“ eingliedern wollte. Es ist oft herrschendes Unverständnis der öffentlichen Verwaltung, dass gesellschaftlich orientierte Vereine für sich keinen „parteiüblichen“ Machtanspruch erheben. Ebenfalls für öffentliche Autoritäten unverständlich, dass Menschen sich in Vereinen zusammenschließen, ohne die Zielsetzung zu haben, mächtig und einflussreich zu sein, sondern sich niveauvoll unterhalten wollen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, die Welt zu verbessern. Schlaraffia hat nach dem zweiten Weltkrieg nur zögerlich interne Reflexionen über die Fehlentwicklungen des Gesamtvereines (Allschlaraffia) begonnen. In jüngerer Geschichtsforschung des Verbandes werden lokale Reyche, die das Prinzip der Weltoffenheit und Gleichheit aller Mitglieder gegen die vorherrschende Gesellschaftspolitik aufrecht hielten, alsvorbildlich genannt.  Jede Zeitepoche der 160-jährigen Geschichte Schlaraffias hat ihr ihren „Stempel aufgedrückt“. Das kann auch zur gegenwärtigen Gesundheitskrise (Covid19) erwartet werden. Alles Geschehen regt zu intensivem Nachdenken und Hinterfragen und offenen Diskussionen an. Es ist vielen Mitgliedern heute bewusst, dass sich die Verhaltensregeln und der Umgang miteinander, und dem Verein mit der Außenwelt den Erkenntnissen einer heutigen modernen Gesellschaft anpassen müssen. 

 

 

Die Vereinssprache

 

Die Vereinssprache ist Deutsch. Die Künstler und Gründer Schlaraffias, die aus Tschechen und Deutschen bestanden, benutzten die deutsche Sprache, die im gesamten 19. Jahrhundert in Prag in Gelehrten- und Künstlerkreisen selbstverständliches Verständigungsmittel und die Sprache der Bildungsschicht war, als Vereinssprache. Trotzdem wurde erst 1914, d.h. 60 Jahre später das Deutsche als einzige interne Sprache der Schlaraffen festgelegt. Als Resultat einer kontinuierlichen nationalen Strömung im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts kam es zu Ausbreitung vieler Schlaraffenreyche in die Ostregionen der Österreich-Ungarischen Monarchie, wo heute keine lokalen Vereine mehr zu finden sind. Einige wenige Reyche entstanden im Vorderen Orient und in Asien. Da sich der Bund im Laufe der Zeit immer mehr als Repräsentant des deutschen Kulturkreises etablierte, haben sich im beginnenden 20. Jahrhundert mehr und mehr Reiche in Deutschland, Österreich und der Schweiz etabliert.

 

Die Einführung des Deutschen als einzig erlaubte Sprache bei Schlaraffia ist ohne Zweifel ein bestimmender Faktor. Allerdings stellt sie in Ländern, die nicht Deutsch als Landesprache haben, eine große Herausforderung bei der Mitgliederwerbung dar, auch wenn manche in der „Fremdsprache Deutsch“ eine Erweiterung ihrer Bildung sehen.

 

 

Identifikation mit Schlaraffia

 

Neben der Identifikation mit der Idee Schlaraffias hat der Verein auch Serviceeinrichtungen, die jeden einzelnen Mitglied zur Verfügung stehen. Dazu gehören eine gedruckte Zeitschrift (Der Schlaraffia Zeytungen), eine Bibliothek und Mediathek, ein Archiv mit vereinshistorischen Unterlagen, eine Sammlung aller Abzeichen und Ehrungen, eine elektronische Datenbank, und ein Symphonie Orchester. Manche Vereinslokale haben ein kleines Vereinsmuseum mit Utensilien und Dokumenten in ihren Räumen eingerichtet. 

 

Hauptkommunikationsmittel ist das E-Mail. Der Verein hat eine zentrale Webseite und jeder lokale Verein hat eine eigene Webseite eingerichtet. 

 

Manche lokalen Vereine haben ihr eigenes Vereinsblatt mit Vereinsnachrichten aber vor allem mit den Beiträgen ihrer Mitglieder. Als Privatinitiative stehen den Mitgliedern eine schlaraffische APP und ein YouTube Kanal (Uhu tönende Wochenschau) so wie ein Radiosender auf Spotify zur Verfügung. 

 

 

Zeitlosigkeit des Vereins Schlaraffia         

 

Der Verein hat keinen Gemein-Zweck und dient nur dem Eigennutzen. Er fördert den Intellekt und spricht Gefühle an ( sich gut zu fühlen, fröhlich zu sein). Der Verein ist daher zeitlos. Er fördert das gesellige Zusammensein und das friedliche Auskommen. Er schließt gesellschaftliche Einrichtungen wie Religion, Tagespolitik und politische Propaganda, und Arbeitswelt bewusst als Diskussionsstoff während der Vereinsabenden aus. Er schafft dadurch einen stressfreien Raum zum Wohlfühlen und ist daher auch eine Quelle für psychische Kraft. Der Umgang mit der freien Rede, die Selbstdarstellung in einem multikulturellen Umfeld führt auch zur Stärkung des eigenen Selbstvertrauens und kann im öffentlichen und Berufsleben Vorteile bringen. Im Sinne des Humanismus wird die bestmögliche Persönlichkeitsentfaltung unterstützt. So wie zu Beginn ist auch heute noch die Freude am kunstvollen Spiel die treibende Kraft des Vereins. 

 

Zusammenfassung:

 

Schlaraffia ist ein Freundschaftsbund und Kulturverein und keine politische Organisation. Die Freude an der Kunst ist der Motor des Vereins. Er ist einzigartig, indem er auf fundamentale Bedürfnisse der gebildeten Menschen, die Epochen unabhängig sind, aufgebaut ist: Es sind dies das Wohlempfinden und die Freude am Spiel/Leben. Ludite ludum ! spielt das Spiel/lasst das Spiel beginnen.

 

 

Stand: August 2022

 

 

 

Diese Abhandlung entstand als Ergebnis langer nächtlicher Gespräche zwischen Favorito (197) und Wiesokrates (342), und erhielt wichtige Ergänzungen und Klarstellungen von Ach-was (84) und Salbatross (304). Andere weiterführenden Gespräche mit Mitgliedern seit 2020 führten zu klärenden Erweiterungen. Sozial-historische Anmerkungen wurden von Reim (30) beigesteuert. Es ist eine nicht offizielle „Work in Progress“. 

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